Diakonie Mark-Ruhr
Diakonie

Beratungsstelle für Menschenhandel: Der schwere Weg aus der Zwangsprostitution


Hagen. Die Sexbranche in Deutschland boomt – und mit ihr die Zwangsprostitution. Bis zu 15 Milliarden Euro werden jährlich umgesetzt. Wie viele Frauen gezwungenermaßen zu dem lukrativen Geschäft beitragen, ist unklar. Doch diakonische Beratungsstellen für die Opfer von Menschenhandel stellen eine Zunahme schutzsuchender Frauen fest. In Hagen begleiten Margarete Kummer und Franziska Lange von der Diakonie Mark-Ruhr fast doppelt so viele Klientinnen wie vor zwei Jahren.

Manchmal muss sie einfach raus aus ihrem Büro. Durchatmen, den Kopf klar bekommen, die Bilder von Kellerverliesen, gewalttätigem Sex, Schweiß und Angst loswerden. "Dann laufe ich eine Runde um den Häuserblock und atme tief durch", erzählt Margarete Kummer. Was sie seit neun Jahren in der Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel der Diakonie Mark-Ruhr in Hagen zu hören bekommt, ist harter Tobak.

"Wenn ich glaube, ich habe schon alles an Grausamkeiten gehört, kommen neue hinzu", sagt sie. "Doch das Muster, nach dem Frauenhandel weltweit passiert, ist meistens ähnlich." 63 Frauen mit 39 Kindern hat die 59-jährige Sozialpädagogin mit ihrer Kollegin Franziska Lange im vergangenen Jahr begleitet, fast doppelt so viele wie 2018.  Seit Beginn dieses Jahres waren schon 17 Frauen in der 2005 gegründeten Beratungsstelle, um mit ihrer Hilfe einen Weg aus der Zwangsprostitution zu finden. Die meisten sind erst Anfang zwanzig. Fast allen wurde in ihren Herkunftsländern – überwiegend Afrika und Osteuropa – ein "guter Job" in Deutschland versprochen. Mit gefälschten Papieren, stets unter der Kontrolle der Menschenhändler und oft begleitet von sexuellen Übergriffen, endete ihre Reise in deutschen Bordellen. Dort sollten sie "ihre Schulden abarbeiten", ein Betrag, der sich nicht selten auf bis zu 60.000 Euro beläuft.

"Ihr illegaler Aufenthalt und fehlende Sprachkenntnisse bringen die Frauen in eine starke Abhängigkeit von den Zuhälterinnen und Zuhältern", berichtet Franziska Lange. "Aus Angst sehen sie keine Alternative als zu gehorchen und das Geld unter widrigsten Umständen abzuarbeiten." Manche Frauen fliehen und wenden sich direkt an die Polizei, die Ausländerbehörden oder Anwälte. Von dort werden sie an die Beratungsstelle weitervermittelt. Andere suchen heimlich den Kontakt, um sich über Ausstiegsmöglichkeiten zu informieren. "Mit diesen Frauen treffen wir uns oft an neutralen Orten, nicht im Büro", erzählt die 26-jährige Sozialarbeiterin. Aus Angst vor dem Menschenhandelsnetzwerk, das sie und oft auch ihre Familien im Herkunftsland bedroht, zeigen nur wenige die Täter an. "Oftmals kennen die Frauen die wahre Identität der Menschenhändler nicht - oder aber so gut, dass sie um ihr Leben fürchten müssen", berichtet Margarete Kummer. Manchmal erweisen sich sogar selbst Verwandte als Teil des organisierten Verbrechens.

Margarete Kummer und Franziska Lange erinnern sich an einen Fall, in der zwei Frauen auch in der Schutzwohnung, die die Beratungsstelle anbieten konnte, nicht sicher gewesen sind. "Wir haben die beiden Frauen in einer Nacht- und Nebelaktion zu Kolleginnen einer Fachberatungsstelle in einem anderen Bundesland gefahren."

Nach der Flucht aus der Zwangsprostitution wartet auf viele eine weitere Hürde. Um aus der Illegalität herauszukommen und sich überhaupt ein neues Leben in Deutschland aufbauen zu können, müssen sie einen Asylantrag stellen. "Für die Frauen ist es unglaublich belastend, ihre Geschichte der Anwerbung, Flucht, Vergewaltigungen, oftmals auch Folter zu erzählen", sagt Margarete Kummer. Bis zu fünf Stunden kann eine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dauern. Die beiden Beraterinnen begleiten die Frauen häufig dabei, drücken ihre Hand, reichen ein Taschentuch. Denn Tränen fließen oft. Wenn die Frauen dabei nicht detailliert und überzeugend sind, etwa weil sie sich schämen und sich selbst die Schuld an ihrem Leid geben, erhalten sie oft einen ablehnenden Bescheid. "Dann packt mich nur noch die Wut", gibt Margarete Kummer zu.

Oft machen die beiden Beraterinnen die Erfahrung, dass die betroffenen Frauen, nicht mehr als Opfer, sondern Täterinnen gesehen werden, weil sie gegen das Aufenthaltsrecht verstoßen haben. Es werde immer schwieriger, Gerechtigkeit für die Frauen zu erkämpfen, sagen sie. Und wenn die Frauen den enormen emotionalen Stress durch ihren ungeklärten Aufenthaltsstatus, vielleicht sogar einen langen Prozess gegen die Täter überstanden haben, beginnt der Kampf um die Kinder. "Wir begleiten eine Frau aus Nigeria, die seit vier Jahren anerkannt ist und seitdem versucht, ihr Kind im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Deutschland zu holen", erzählt Franziska Lange.

Doch es gibt auch die positiven Geschichten, die den beiden Sozialarbeiterinnen Kraft für ihre schwierige Arbeit geben. Vor einem Jahr hat Margarte Kummer die 21-jährige Binta (Name geändert) aus Guinea zu ihrer Anhörung begleitet. "Was sie dort über Missbrauch und Folter in ihrer Ehe, die Flucht nach Europa und ihre Arbeit als Sexsklavin in einem Kellerverlies erzählte, hat uns alle geschockt." Binta erhielt einen sicheren Aufenthalt. Sie machte einen Sprachkurs und eine Psychotherapie. Seit Dezember lebt sie in einer eigenen Wohnung und möchte ihren Schulabschluss nachholen. "Wenn sie in unsere Beratungsstelle kommt, geht die Sonne auf", meint Franziska Lange. "Trotz allem, das ihr passiert ist, hat sie unglaublich viel Kraft und Zuversicht für ein neues Leben. Dass wir sie bei ihren ersten Schritten dorthin begleiten konnten, macht uns stolz und froh."

Text und Fotos: Sabine Damaschke, Diakonie RWL