Diakonie Mark-Ruhr
Diakonie

Träger der Freien Wohlfahrtspflege schlagen Alarm und machen auf Notstand in der Pflege aufmerksam


Witten. Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege haben angesichts des Tags der Pflege auf schwerwiegende Fehlentwicklungen in der ambulanten und stationären Pflege aufmerksam. Sie fordern einen flächendeckenden Tarifvertrag für Pflegekräfte und eine bessere Refinanzierung ihrer Leistungen von den Pflegekassen. Der Ennepe-Ruhr-Kreis steht vor der Herausforderung, eine gute und bedarfsgerechte Pflege der älteren und pflegebedürftigen Bevölkerung gegenwärtig und in Zukunft zu gewährleisten.

Die Umsetzung dieser Aufgabe sehen die Freien Wohlfahrtsverbände gefährdet.  Aktuell führe der Fachkräftemangel dazu, dass den Wünschen und Bedarfen der Menschen entsprechende Pflegearrangements nicht mehr organisiert werden können. Dies liegt auch an einer chronischen Unterfinanzierung der Pflege bei gleichzeitig steigenden Anforderungen an sie.

„Bereits jetzt ist die Pflege am Limit, aber die Situation wird sich aufgrund des demographischen Wandels und bei fortgesetztem Personalmangel noch verschärfen“ schildert Esther Berg. Sie ist Bereichsleiterin der Sozialen Dienstleistungen bei der Arbeiterwohlfahrt Ennepe-Ruhr und Mitunterzeichnerin der Resolution der Kommunalen Konferenz Alter und Pflege des Ennepe-Ruhr-Kreises zum Notstand in der Pflege. „Laut Pflegemonitor fehlten im vergangenen Jahr etwa 17.000 Pflegekräfte in der stationären Pflege und 21.000 in den ambulanten Diensten. Prognosen gehen davon aus, dass in 2025 rund eine Viertelmillion Pflegekräfte fehlen könnten.“

Von einer „angespannten Situation“ in der stationären Pflege berichtet auch Regina Mehring, Geschäftsführerin der Diakonie Mark-Ruhr Pflege und Wohnen gGmbH sowie der Ev. Pflegedienste Mark-Ruhr gGmbH. „Kurzfristig sehe ich hier auch keine Entspannung“, nimmt sie Bezug auf den weiterhin steigenden Bedarf an Pflegefachkräften. In der Politik sei zwischenzeitlich zwar einiges in Bewegung gekommen, doch die von Gesundheitsminister Jens Spahn propagierten 13.000 zusätzlichen Pflegefachkräfte seien eher ein „Schritt der Verzweiflung“. Die Diakonie Mark-Ruhr, zu der insgesamt 14 Altenheime (sechs davon im EN-Kreis) gehören, kritisiert, dass die bürokratischen Anforderungen immer weiter steigen. Das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) mache wirtschaftlichen Betrieb von Pflegeeinrichtungen –  unabhängig vom Personalmangel – immer mehr zu einer Herausforderung.

Der Personalmangel hat bei den Freien Wohlfahrtsverbänden zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung geführt. So bietet die Arbeiterwohlfahrt im Ennepe-Ruhr-Kreis jetzt in den ambulanten Diensten Arbeitszeiten an, die mit den Betreuungszeiten von Kindertagesstätten kompatibel sind. „ Statt um 6 Uhr können Mitarbeiter, die gerade aus der Elternzeit kommen, erst um 8 Uhr beginnen und bei uns gibt es auch keine geteilten Dienste mehr“, schildert die Bereichsleiterin Berg ihre Bemühungen, jungen Eltern den Wiedereinstieg in den Arbeitsalltag zu erleichtern. Im Wettbewerb um Mitarbeiter stehen die Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Konkurrenz zu privaten Anbietern und zunehmend auch mit Zeitarbeitsfirmen. „Die Zeitarbeit mag kurzfristig attraktiv erscheinen, auch weil die Zeitarbeiter sich nicht mit Evaluation und Planung beschäftigen müssen. Als Freie Wohlfahrtsverbände bieten wir aber ein Reihe von Zusatzversorgungen an, die den Arbeitnehmer auch im Alter absichern und wir zahlen nach Tarifvertrag, was leider auf dem freien Markt nicht immer die Regel ist“, ergänzt Caritasdirektor Dominik Spanke vom Caritasverband Ennepe-Ruhr. Oftmals machen private Anbieter mit Dumpinglöhnen den Markt kaputt. „Mehr Fachkräfte für die Pflege können wir aber nur über eine gleichwertige Bezahlung gewinnen, deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Tarifvertrag, der der Ungleichheiten in der Entlohnung ein Ende bereitet. Nur das macht den Beruf wieder attraktiver und trägt zu seiner höheren gesellschaftlichen Anerkennung bei“, sind sich Esther Berg und Dominik Spanke einig.

Genauso schwierig wie in der stationären Pflege ist die Situation bei den ambulanten Pflegediensten, laut Hartmut Claes, Vorstand des Caritasverbandes Witten. Auch hier fehlen die notwendigen Fachkräfte, die der Arbeitsmarkt nicht mehr hergibt. Schon heute sind Pflegeanbieter gezwungen, Anfragen abzusagen oder gar aus Gründen des Personalmangels, bestehende Pflegen zu kündigen. Darum plädiert Claes dafür, keine Ressourcen zu verschenken und die Pflegekräfte von allem überflüssigen bürokratischen Ballast zu befreien, damit sie sich auf das konzentrieren können, wofür sie einst angetreten sind und heute gebraucht werden: für die Pflege am Menschen.  „Zu Beginn einer Pflege müssen mehr als 40 Formulare ausgefüllt werden. Ein Aufwand, der nicht bezahlt wird, dafür aber viel Zeit kostet und zudem die Motivation der Pflegekraft bricht. Hier müssen schnelle und radikale Lösungen her, um die Flucht aus dem Pflegeberuf zu stoppen und das System zu retten“, so Claes. Denn dort wo Menschen nicht mehr in ihrer Häuslichkeit gepflegt werden können, müssen Sie in stationären Einrichtungen versorgt werden, das sei teurer und auf Dauer nicht leistbar. Aufräumen möchte Claes auch mit dem Märchen der schlechten Entlohnung. Examinierte Pflegekräfte verdienen gut. Sie bekommen bei den Wohlfahrtsverbänden einen gesicherten Tariflohn der sich hinter den Gehältern in der freien Wirtschaft nicht verstecken braucht.  
„Nichtsdestotrotz stehen wir als Träger und Arbeitgeber in der Verantwortung, unsere Einrichtungen und Angebote im Bereich Pflege weiterzuentwickeln. Natürlich im Sinne der zu Pflegenden. Dazu versuchen wir die Leistungsfähigkeit an unsere Mitarbeiter anzupassen und nicht Auslastungen auf Kosten unserer Mitarbeiter zu schaffen. Wir setzen einen Schwerpunkt auf Qualifizierung durch Fort- und Weiterbildung sowie in Ausbildung engagierter Menschen für unsere Pflegeberufe – insbesondere auch mit Blick auf die neue generalisierte Ausbildung gemeinsam mit den Gesundheits- und Krankenpflegern“, so Regina Mehring.

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege fordern daher eine Umkehr von der bisherigen Politik. Die Kommerzialisierung und Ökonomisierung der Pflege habe ein Ausmaß angenommen, das nicht mehr sinnvoll sei. „Die Pflege von Menschen ist eine verantwortungsvolle und sinnstiftende Arbeit, die eine hohe fachliche Kompetenz erfordert. Pflegekräfte, die sich für diesen Beruf entschieden haben, müssen so arbeiten, wie es ihrem Berufsethos entspricht“, unterstützen die Freien Wohlfahrtsverbände die Resolution zum Notstand in der Pflege unisono.

Pflege in Deutschland in Zahlen
3,4 Millionen Menschen waren Ende 2017 pflegebedürftig
10 Millionen Menschen werden im Jahr 2050 80 Jahre oder älter sein
81 Prozent waren älter als 65 Jahre, 35 Prozent älter als 85 Jahre
2,59 Millionen wurden zu Hause versorgt
1,77 Millionen wurden allein durch Angehörige versorgt
818 000 Pflegebedürftige leben in Altenpflegeheimen
14 500 Pflegeheime gibt es in Deutschland
14 100 ambulante Pflegedienste gibt es in Deutschland
1,15 Millionen Menschen arbeiten in der Pflege

Altenpflege in der Diakonie
2.755 Pflegeheime
1.756 ambulante Pflegedienste und Beratungsstellen
153.000 hauptberufliche Mitarbeitende

(Quellen: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2017 Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung Deutschlandergebnisse  (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/Downloads-Pflege/pflege-deutschlandergebnisse-5224001179004.pdf?__blob=publicationFile&v=5) und Einrichtungsstatistik 2016 der Diakonie Deutschland)

Zahlen & Fakten (EN-Kreis)
Pflegebedarfsplanung
Der Ennepe-Ruhr-Kreis legt alle zwei Jahre einen Pflegebericht vor, der sich mit der Versorgungsstruktur auseinandersetzt und errechnet den Bedarf an Versorgungsplätzen im Kreis. Der aktuelle Pflegebericht stammt aus dem Jahr 2018 und ist abrufbar unter: www.enkreis.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/54_1/Pflegebericht_2018_A4.pdf

Demographische Entwicklung
IT-NRW rechnet im Jahr 2025 je nach Berechnungsmodell von 11.100 bis 12.300 pflegebedürftigen Menschen im Kreis. Bereits in 2015 wurden 11.297 anerkannte Pflegebedürftige gezählt, ihre Zahl ist im Vergleich zu 2005 um 2000 Menschen gestiegen. Die Zahl der über 80-Jährigen wird von 20 844 in 2016 auf 26302 in 2025 steigen. Bei dieser Altersgruppe geht man von einem Pflegebedürftigkeitsrisiko von 30 Prozent aus.

Abbau von stationären Heimplätzen
Laut IT-NRW lebten 3.612 Menschen (Ende 2017) in den vollstationären Einrichtungen des Ennepe-Ruhr-Kreises,  im Sommer 2018 standen aber nur noch 3.520 Plätz zur Verfügung. 350 Plätze wurden durch die landesweite umgesetzte Vorgabe der Einzelzimmerquote in Pflegeheimen abgebaut bzw. mit einer Wiederbelegungssperre versehen. Dies führt zu durchweg belegten Kurzzeitpflegeplätzen. Das Heimplatzangebot wird zukünftig nur in Witten ausreichend sein, in den anderen sechs Städten des Kreises besteht Bedarf an weiteren Versorgungsplätzen.

Engpässe in der ambulanten Pflege
Angehörige suchen immer häufiger vergeblich nach Kurzzeitpflegeangeboten, um eine Versorgung z.B. nach einem Krankenhausaufenthalt sicher zu stellen. Es bestehen derzeit 64 solitäre Kurzzeitpflegeplätze im Kreis.

Vergütung von Altenpfleger*innen bei den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege
Im ersten Ausbildungsjahr beginnen sie mit einem Bruttogehalt von etwa 1.100 €, das sich bis maximal 1.300 € im dritten Ausbildungsjahr steigert. Als gelernte Pflegefachkraft verdient man als Berufsanfängerin etwa zwischen 2700 und 2900 Euro (plus Zeitzuschläge und Kinderzulagen) je nach Arbeitgeber und geltendem Tarifvertrag.

Im Bild sind zu sehen (v.l.n.r.): André Löckelt (Josefshaus Witten Herbede), Jan-Philipp Krawinkel (Paritätischer Wohfahrtsverband), Esther Berg und Jochen Winter (beide AWO EN), August Schröer und Regina Mehring (Diakonie Mark Ruhr), Hartmut Claes (Caritas Witten) und Dominik Spanke (Caritas Ennepe-Ruhr). Foto: Brigitte Dinkloh